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Von Stella Spinczyk
Manchmal möchte man einfach im Boden versinken - oder hinter einer Wand verschwinden. So geht es zumindest der Protagonistin Anna aus dem Jugendroman „Anna in der Wand“ von Patrice Kindl. Sie ist schüchtern. So schüchtern, dass sie sich sogar vor ihrer Mutter und ihren Schwestern in der Wand ihres viktorianischen Elternhauses versteckt. Sie verschwindet in dem 22 Zimmer großen Haus in selbstgebauten Geheimgängen und Zwischenzimmern - ganz so wie ihr Vater, der vor vielen Jahren irgendwo zwischen den Bücherregalen der Nationalbibliothek „verschwand” und seither von Anna schmerzlich vermisst wird.
Anna ist ein heranwachsendes Mädchen und eigentlich längst im schulpflichtigen Alter. Genau das wird zum großen Problem, denn Anna möchte keinesfalls in die Schule. Nach einem Schockereignis - die Schulpsychologin steckt das Mädchen einfach in ihre Handtasche - macht sich Anna ihre „Unsichtbarkeit" zu Nutze und verschwindet hinter der Wand. Wortwörtlich. Sie erschafft sich ihre eigene Welt mit Geheimgängen und Gucklöchern, um weiterhin am Leben ihrer Mutter und Schwestern teilhaben zu können - ohne teilzuhaben. Hier fühlt sie sich wohl, nicht verurteilt, hier hat sie ihre Ruhe.
Die Geschichte, die Patrice Kindl von Anna erzählt, ist eigentlich eine, die auf viele Kinder und Heranwachsende - ja, sogar Erwachsene - zutrifft.
Denn sie erzählt von Ängsten und Unsicherheiten, besonders im Zusammenhang mit dem Erwachsenwerden, mit Veränderungen im Körper und im Fühlen. Sie erzählt von teilweise erdrückend wirkenden Persönlichkeiten, die wenig Raum für schüchterne und introvertierte Menschen lassen, die deren Bedürfnisse nicht sehen, sie übersehen. Und sie erzählt die Geschichte einer ersten Liebe, einer unglücklich endenden Liebe? Vielleicht handelt die Geschichte auch von Mut und vom Über-Sich-Hinauswachsen?
Der amerikanischen Autorin gelingt es, die Gefühle der Protagonistin in reale Bilder zu verwandeln: Sich verstecken zu wollen, sich nicht gesehen zu fühlen, eine „Wand” zwischen sich und anderen zu spüren, sich einen Schutzschild bauen zu wollen. Dabei geht Kindl ungemein liebevoll mit ihrer Hauptfigur um und lässt sie aus ihrer Sicht erzählen, fühlen, erklären - mit allen Wirrungen eines unsicheren Teenagermädchens. In ihrem Roman gelingt es Kindl immer wieder, surreale Momente zu schaffen, indem sie zum Beispiel Anna winzig klein darstellt - einer Puppe zum Verwechseln ähnlich oder in eine Handtasche passend. Viele Passagen wirken traumhaft-unwirklich, sodass sich der Leser für einen Moment in eine Fantasiewelt entführt fühlt, um gleich darauf wieder in der grotesken Realität eines 14-jährigen Mädchens zu landen, das in der Wand ihres Elternhauses lebt.
Ich bin fasziniert - heute mehr als in meiner Kindheit - von dem psychologischen Feingefühl, das die Autorin in ihrem Roman offenbart. Daher möchte ich dieses Buch nicht nur Jugendlichen und Erwachsenen ans Herz legen, die sich vielleicht nicht jeder Situation gewachsen fühlen, die lieber zuhören als reden, die nicht der Mittelpunkt sein möchten, um den sich alles dreht, sondern auch allen anderen Menschen, die eine neue Perspektive auf Introversion, Schüchternheit und (jugendliche) Unsicherheiten suchen.
„Anna in der Wand” von Patrice Kindl
(1998 Ersterscheinung auf Deutsch, ©dtv junior extra)
Von Brigitte Nienhaus
Ich lese gern Bücher mit gesellschaftlichen, historischen, soziologischen Themen. Allerdings sind mir wissenschaftliche Arbeiten oft zu trocken - die lese ich nur, wenn ich muss. Jedoch liebe ich Geschichten über Menschen. Deswegen hat mich „Gute Geister“ von Kathryn Stockett (erschienen 2009) begeistert. Spannend und besonders: Ein Buch im Buch. Eine junge weiße Frau, Eugenia Phelan, genannt Skeeter, interviewt zwölf schwarze Hausmädchen, um ein Buch über deren Arbeit bei „den Weißen“ schreiben zu können. Ein solches Thema zu wählen, war unglaublich mutig, geradezu revolutionär und eigentlich undenkbar zu einer Zeit, als die Rassentrennung noch absolut und der Ku-Klux-Klan auf brutalste Weise aktiv war. Die Treffen konnten nur heimlich stattfinden und das Buch musste anonym veröffentlicht werden.
Aus dem Inhalt
Der Roman mit dem Originaltitel „The Help" beschreibt die Arbeit von schwarzen Hausangestellten in den Haushalten weißer Familien zu Beginn der 1960er Jahre, also dem Beginn der Bürgerrechtsbewegung,
in ihrer Heimatstadt Jackson, Mississippi. Die Ereignisse werden abwechselnd aus der Sicht der drei Hauptfiguren beschrieben: Skeeter und die beiden Hausangestellten Aibileen und Minnie. Ihre
unterschiedliche Sprechweise aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche zu übertragen, war sicher keine leichte Aufgabe für die Übersetzerin Cornelia Holfeld-von der Tann und ist gut
gelungen.
Man könnte nun meinen, das Buch spiegele eine düstere Atmosphäre, denn wie zu erwarten, erlebt die Mehrheit der Hausmädchen herabwürdigendes bis unmenschliches Verhalten in den weißen Familien. Doch
der Roman erzählt auch Geschichten, in denen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe einander respektieren und sich gegenseitig helfen. Die Tapferkeit, der Mut, die Weisheit der „Maids" berühren, auch
dann, wenn sie von den Weißen herablassend behandelt werden, ihnen aber moralisch haushoch überlegen sind.
So fällt Aibileen durch ihren liebevollen Umgang mit den ihr anvertrauten weißen Kindern (insgesamt 17 Kinder hat sie im Lauf der Jahre betreut) und ihr pädagogisches
Geschick auf.
Auch Witz und Humor kommen nicht zu kurz: Eine der weißen Arbeitgeberinnen versucht mit aller Macht durchzusetzen, dass in allen Haushalten eine getrennte Toilette für die Hausangestellten
eingerichtet wird - man wisse ja, dass über die Toilette Krankheiten von Farbigen übertragen würden. Eine merkwürdige Argumentation, wenn man bedenkt, dass die Hausmädchen Essen zubereiten, Betten
machen, Badezimmer putzen und nicht zuletzt rund um die Uhr Kinder versorgen. Skeeter findet einen Weg, diese Absurdität zu denunzieren, indem sie einen Aufruf startet, Toilettenschüsseln bei dieser
Frau abzugeben - und so stehen eines Morgens massenhaft Klos auf deren Rasen.
Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage: Das Buch wird allen Hindernissen und Gefahren zum Trotz veröffentlicht und hat einen Riesenerfolg. Für die drei Hauptpersonen
ist eine positive Entwicklung in Gang gekommen, die das Leben jeder einzelnen nachhaltig verändert. Übrigens: Stocketts Roman wurde zunächst von etlichen Verlagen abgelehnt, und das noch 2009! Der
Roman über die Hausmädcheninterviews wurde dann jedoch ein großer Erfolg und 2011 sogar verfilmt (Regisseur: Tate Taylor).
Natürlich kann „Gute Geister“ in der Kempener Stadtbibliothek ausgeliehen werden!